Experimentelles Kunstradio.

Jeden 4. Sonntag des Monats von 15 - 17 Uhr

Eine Sendung des Frankfurter Klangkünstlers Achim Wollscheidt.

  • Infos über Selektion:

Die "Selektions" Sendung an jedem 4. Sonntag im Monat hat eine vielleicht typische, wenn auch etwas längere radio x Geschichte.

Ganz zu Anfang, als Petra Ilyes noch für das Radio arbeitete, hatte sie die Idee einer Klang-Galerie für die Nachtschiene. Statt eines Peil-Tons, den radio x senden musste, sollte GEMA-freies Material gespielt werden - Klangkunst an Stelle von Musik-Stücken. Ich sollte einen Rahmen für die neue „Radio-Galerie“ schaffen und mir bekannte Künstler fragen, ob sie nicht Lust hätten, ein Stück Klangkunst beizusteuern. Mehrere Fragen stellten sich nun, z.B.:

  • "Wie unterscheidet sich Klangkunst von anderer, experimenteller oder Neuer Musik?
  • Wie kann klanglich ein Raum für andere Klänge geschaffen werden, und wie unterscheidet man diese Sphären?
  • Wie organisiert man diesen Raum, d.h. wer macht was, unter welchen technischen und organisatorischen Bedingungen?".


Wären all diese Fragen beantwortet worden, hätte sich eine weitere gestellt: "Wie kann man ein qualitatives Level gewährleisten, ohne dass immer das Gleiche geboten wird - weil es sich nun mal um Radio handelt und dieses vom Wechsel lebt?" Die angesprochenen Klangkünstler hätten also nicht nur unbezahlt arbeiten müssen, sondern (es gibt nicht so viele...) turnusmäßig neue Klangkunst liefern müssen.

Da nun die nächtliche Sendung sowieso von Festplatte laufen sollte, lag es nahe, den Computer selbst zum Instrument zu machen. Statt ihn lediglich als Abspiel-Gerät zu nutzen, wird er Koproduzent. Dies ist möglich, weil es seit Mitte der 90er Jahre Musik-Programme gibt, die real-time bedient werden können (pd oder pure-data, kostenlos, oder max/msp, nicht kostenlos). Real-time heißt dabei, dass die Eingabe eine zeitgleiche Veränderung der Ausgabe produziert. Musik ist mit anderen Worten veränderbar, während sie läuft. Oder mit noch anderen Worten: Musikstücke können plötzlich hören. Denn je nach Definition der Eingabe können z.B. Töne (oder Worte), die man einem Computer zuruft (über Mikrophon und Soundkarte), ein zeitgleich laufendes Stück beeinflussen oder verändern. Voraussetzung hierfür ist, dass - in der entsprechenden Sprache (im Fall von radio x pure-data) - ein Programm geschrieben wird, das qualifizierte Eingaben zulässt und in Befehle für die Veränderung der Ausgabe übersetzt. Eine einfache Veränderung der Ausgabe wäre beispielsweise die Reorganisation von Reihenfolge oder Schichtung vorproduzierter Samples.

Nun gibt es seit den 60er Jahren ein ungelöstes kompositorisches Problem. Gottfried Michael König hatte damals die Idee, ein Computer-Musik-Stück zu schreiben, das sich selbst schreibt. Eine Art musikalisches Perpetuum Mobile, in dem voreingestellte Algorithmen dauernd neue Algorithmen produzieren und durch die Übersetzung in Oszillator-Werte ein beständiger Musikstrom entsteht. In gewissem Sinne wäre dadurch der Komponist zum distanzierten Zuhörer seines eigenen Werks – einer musikalischen Genesis - geworden.

Mehrer Gründe verhinderten die Realisierung dieser Idee: zunächst waren es die mangelnden technischen Möglichkeiten (Rechnerleistung). Außerdem ist es aus heutiger Sicht zweifelhaft, ob sich der Komponist als Gesetz(Algorithmen)-Geber derart zentral positionieren sollte, weil er damit politisch ein Zeichen von Allmacht setzt, das sich ein Künstler ernsthafter Weise nicht zurechnen kann. Die Idee scheiterte auch daran, dass nur wenige Künstler die Fähigkeit hatten, Algorithmen so zu komponieren und zu errechnen, dass eine interessante, stets neue Komposition entsteht. Vielleicht schien es aber auch nur interessanter zu sein, in der Gruppe zu arbeiten. Wie auch immer, ich sah nur eine Möglichkeit, das Problem zu lösen, nämlich eine (zuerst begrenzte, später unbegrenzte) Gruppe von Menschen an dem Stück arbeiten zu lassen.

Das Stück ist demnach nichts Fertiges - eher ein Zwischenstück oder ein Interface eines Austauschs zwischen verschiedenen Teilnehmenden, die über Internet von verschiedenen Orten aus auf den Rechner zugreifen und den gerade laufenden Musik-Strom verändern. Bedingung dafür ist ein Zugang zum Netz, ein live-stream und genügend Teilnehmer. Die Gründe, warum es schlussendlich nie zur Realisierung des Projekts auf radio x kam, waren, dass sich sehr lange kein Sponsor für das Streaming fand und, das hört sich vielleicht seltsam an, dass alle Kollegen, die ich ansprach, Musik zwar machten, gegebenfalls auch programmieren lassen wollten, aber auch eine relativ einfache Sprache wie pure-data nicht erlernen wollten. Das ist 10 Jahre her. Heute ist das natürlich anders. Pure-data steht auf dem Lehrplan von Akademien, und einen Stream gibt es auch wieder bei radio x.

In den folgenden Jahren hatte ich das Projekt im Netz als „imaginary soundscapes“ selbst organisiert und eigenfinanziert. Der Unterschied hierbei war, dass wir (Dirk Witschke, Götz Witschke und ich) ein graphisches Interface entwickelt hatten und so Programmier-Kenntnisse nicht notwendig waren um mitzumachen. Damit waren alle Zuhörer angesprochen und nicht nur ein Kreis ausgewählter Spezialisten.

Im Augenblick mache ich den dritten Anlauf: Eine den momentanen künstlerischen und technischen Möglichkeiten entsprechende Version soll bis Ende des Jahren im Web der Tate Modern starten. Wenn es tatsächlich klappt werde ich natürlich einen Link auf diese (radio x) Website stellen.

Was es jeden 4. Sonntag von 15.00 - 17.00 Uhr zu hören gibt, sind die Ergebnisse meiner Programmier-Fortschritte für einen Teilbereich dieses Projekts: Ich initiiere zwei Stunden lang mit Laptop und Soundkarte einen Musik-Strom, der in wesentlichen Teilen sich selbst erzeugt mit kleinen mehr oder weniger zufälligen Inputs aus dem klanglichen Umraum des Studios. Mikrophon und Regler sind offen und blenden ein statt aus. Ab und zu benutze ich CDs, die ich im Studio finde, als mehr oder weniger kurzfristigen Input.

Was mich (und hoffentlich auch die Hörer) dabei interessiert, ist, wie viel Komplexität, auf welcher Stufe und in welchen zeitlichen Relationen gebraucht wird, um nicht den Charakter des Zufälligen entstehen zu lassen, wobei der Zufall als Änderungs-Faktor natürlich unverzichtbar ist. Eigentlich ist es wie bei einer guten Suppe: Es sollte ausreichend davon vorhanden sein, der Fond, das Gemisch der Zutaten und die Gewürze müssen stimmen: Es soll und kann immer etwas anderes in den Vordergrund treten, und es darf nicht langweilig werden.

Achim Wollscheid
09. September 09